ZEIT ERZÄHLEN
ZEIT ERZÄHLEN
Eine Veranstaltungsreihe zum 90. Geburtstag von Walter Kempowski
25. & 26.04. Symposium + 25.–28.04. Ausstellung + 27. & 28.04. Theater

UE – University of Applied Sciences Europe, Museumstraße 39, 20765 Hamburg
Altonaer Museum, Museumstraße 23, 20765 Hamburg
Altonaer Theater, Museumstraße 17, 20765 Hamburg

Zeit erzählen
25. & 26.04. Symposium + 25.-28.04. Ausstellung + 27. & 28.04. Theater


Audimax — UE University of Applied Sciences - Museumstraße 39, 22765 Hamburg
Altonaer Museum - Museumstraße 23, 22765 Hamburg
Altonaer Theater
- Museumstraße 17, 22765 Hamburg
Symposium

Abstracts

Prof. em. Dr. h.c. Bazon Brock
Zur Möglichkeit von Geschichtsschreibung jenseits zeitlicher Linearität

Was hat die Literatur der Geschichtsschreibung voraus? Geschichte ist normalerweise die Geschichte des Geschehenen. Inzwischen ist aber das Nicht-Geschehende, weil vernünftigerweise Unterlassene, für den Fortbestand des Lebens auf Erden viel wichtiger als alles gewalttätige Getue. Das Unterlassen als ethisch höchstrangiges Handeln ist genuine Aufgabe der Literatur. Zudem beschränkt die Schilderung der Ereignisse wie der Ereignislosigkeit nicht auf das sich bloß so Ergebende, sondern orientiert sich auf die Macht des Möglichen. Bessere Geschichtsschreibung gibt es nur als gute Literatur.

 

Prof. Dr. Carla Damiano, Dr. Volker Hage, Simone Neteler
„Eine Befreiung der Literatur!“ –
Visionäre Ansätze im Werk Walter Kempowskis

Über seine Arbeit schrieb der Schriftsteller Walter Kempowski schon 1990: „Dies alles läuft auf eine Befreiung der Literatur hinaus. Auf die Überführung in eine andere Dimension, die erst mit neuen technischen Möglichkeiten zu erreichen ist.“ Und 2005 ergänzte er: „In den Ortslinien gehe ich noch einen Schritt weiter.“ Wohin dieser Schritt in seiner letzten Konsequenz führt und wie sich Walter Kempowskis visionäres Literaturverständnis in seinem Werk auf unterschiedlichste Weise spiegelt, darüber sprechen Prof. Dr. Carla Damiano, Literaturwissenschaftlerin, Simone Neteler, langjährige Mitarbeiterin, und Volker Hage, Journalist und Wegbegleiter.

 

Prof. Dr. Knut Ebeling
Geschichte als Fragment. Gedenken und Gomorrha

Beim Schreiben des Vortrags zu Kempowskis Echolot-Projekt kam mir eine Person in die Quere: Mein Vater, der Kempowski-Typ: zwei Jahre jünger, gleiche Generation der alten weißen norddeutschen Männer – die sich in ähnliche Szenarien des Kriegsendes vertieften. Ihr Gedächtnis brannte, weil sie in brennenden Städten waren (wie zum Beispiel im Hamburger Feuersturm nach der „Operation Gomorrha“ 1943). Wie soll man diesen Bränden des Gedächtnisses gedenken, die das Gedächtnis der Brände wachzuhalten versuchten? Wie soll man den alten weißen norddeutschen Männern gedenken, welches Memorial soll man für sie errichten? Und wie ist ihr Nachleben zu gestalten? Kann man dem Feuersturm des Gedächtnisses eine Form geben? Oder ist er die Unform schlechthin, ist das Echolot-Projekt ein Haufen „Zeugs“, wie Marcel Reich-Ranitzki einmal über Kempowski urteilte?

 

Dr. Dirk Hempel
„Ich steige in den Leib der Geschichte“: Kempowskis Ortslinien – ein Überblick

Am Ende seines Lebens arbeitete Walter Kempowski an einem gigantischen „Gesamtkunstwerk“, den Ortslinien.  Das „Supergemälde“ sollte rund 18 000 Tage der Jahre 1850/1950 bis 1900/2000 umfassen und intensiver noch als das kollektive Tagebuch Echolot (1941–1945) Geschichte „erlebbar“, ja „begehbar“ machen. Dafür nutzte Kempowski die neuen technischen Möglichkeiten der 1990er-Jahre: Digitalisierung und Internet. Er wollte Aufzeichnungen, Briefe und Lebensgeschichten von Prominenten und Unbekannten sowie Musik, Filme und Fotografien als Online-Collage präsentieren, die auch über seinen Tod hinaus fortgeschrieben werden sollte, ohne jede zeitliche Begrenzung.
Der Vortrag gibt einen Überblick über Kempowskis Motive und Intentionen („Demokratie!“). Er informiert über Inhalt und Struktur des „Textes“, schildert die Visionen der organisatorischen und technischen Umsetzung und sucht nach Gründen für das Scheitern des monumentalen Werks.

 

Prof. Dr. Wolfgang Kemp
Comic 2.0

Die Eigenzeit der vielgerühmten neuen Fernsehserien ist die Länge, die gestreckte Zeit. Die Eigenzeit der neuen High-Concept-Comics ist der Raum bzw. die mit Zeitkapseln gespickte Fläche. Der Strip ist tot, es lebe die Simultaneität, der Zeitvergleich, die Bifurkation, die Einbettung. Aus Erzählen mit Bildern wird Erzählen in Bildern. Der Vortrag möchte diese neuen Tendenzen an zwei Werkbeispielen illustrieren: an den Comic Books von Jason Shiga Meanwhile (2010) und von Richard McGuires Here (2014).

 

Prof. Dr. med. Dipl.- Psych. Michael Linden
Pathogene Erinnerungen oder glücklich ist, wer vergisst

Sich erinnern, neue Fertigkeiten lernen oder sich selbst definieren zu können im Wissen um die eigene Geschichte, sind unverzichtbare menschliche Leistungen. Dennoch ist Erinnerung nicht nur etwas Gutes, sondern kann auch negative Seiten haben.
Es gibt viele Gedächtnisse, wie beispielsweise ein motorisches, vegetatives und emotionales Lernen, ein prozedurales und deklaratives Gedächtnis, ein episodisches und semantisches Gedächtnis, ein Langzeit- und ein Kurzzeitgedächtnis. Jede Form der Erinnerung folgt unterschiedlichen psychologischen Prinzipien und hat unterschiedliche verhaltenssteuernde Wirkungen. Von besonderer Bedeutung ist, dass es keine objektive Erinnerung gibt. Dies schließt sogar ein, dass es Erinnerungen gibt an Ereignisse, die nie stattgefunden haben (false memories). Alles was Menschen erinnern ist ein Ausdruck von aktuellen Emotionen und Motiven und wer sich oder andere erinnert hat eine Agenda.
In der Psychiatrie und Psychotherapie spielen belastende, pathogene oder Fehlerinnerungen eine zentrale Rolle. Beispiele sind frühkindliche Traumata, die die Betroffenen ein Leben lang verfolgen, Angsterlebnisse, die in der Folge das Alltagsleben in Form von Angststörungen einschränken, posttraumatische Stresserkrankungen, bei denen sich Erlebnisse in Form von Intrusionen immer wieder aufdrängen, Verbitterungsstörungen bei denen die Betroffen im Vergangenen wühlen, u.v.m.
Es gibt auch gesellschaftliche Erinnerungen, die zu individuellem wie sozialem Leid und dysfunktionalem Verhalten führen, wie beispielsweise juristische Auseinander­setzungen, Blutrache, nationale oder religiöse Gruppenbildung und daraus abgeleitete Ansprüche oder Feindschaft, bis hin zu kriegerischen Handlungen, die mit Erinnerungen gerechtfertigt werden. So sind auch öffentliche Denkmäler nahezu immer aggressive Akte, die andere Personen oder Gruppen herabwürdigen.
Eine wichtige wissenschaftliche und psychotherapeutische Frage ist, wie mit Erinnerungen so umgegangen werden kann, dass sie dem seelischen oder gesellschaftlichen Frieden dienen. Evidenzbasierte Therapiestrategien kommen aus der Weisheitspsychologie, der Vergebungspsychologie, der Akzeptanz und Commitment Theorie oder der Rescripting und Reprocessing-Theorie. Diese psychologischen Prinzipien sind auch auf gesellschaftliche Prozesse übertragbar.

 

Michaela Melian
Memory Loops
Mit „Memory Loops“ gewann Michaela Melián 2008 den Kunstwettbewerb der Landeshauptstadt München „Opfer des Nationalsozialismus – Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens“. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk/Hörspiel und Medienkunst verwirklicht und als Hörspiel des Jahres 2010 ausgezeichnet. 2012 erhielt Memory Loops den Grimme Online Award SPEZIAL. „Memory Loops – 300 Tonspuren zu Orten des NS-Terrors in München 1933–1945“ basiert auf Transkriptionen historischer und aktueller Originaltöne von NS-Opfern und Zeitzeugen. Michaela Melián entwickelt daraus Collagen aus Stimmen und Musik, die mit der Topographie des Nationalsozialismus in München verknüpft sind. Sie können entweder einzeln mit Standortbezug gehört werden oder in einer Einheit als gestaltetes Hörspiel. Neben den deutschen Tonspuren sind auch 175 Zeitdokumente in Englisch abrufbar.

 

Isabel Raabe, André Raatzsch
Gegen-Erzählungen. RomArchive – Das Digitale Archiv der Sinti und Roma stellt sich vor

Die Darstellung der Minderheit der Sinti und Roma ist seit jeher geprägt von Fremdzuschreibungen. RomArchive bricht mit diesen Bildern und begegnet Stereotypen und Vorurteilen mit von Sinti und Roma selbst erzählten Gegengeschichten, die Lebensrealitäten und den Reichtum der Künste und Kulturen in den Mittelpunkt stellen. Anders als in hegemonialen Archiven folgt RomArchive konsequent den Prinzipien der Selbstdarstellung: Sinti und Roma gestalten das Archiv – als Kurator_innen, Künstler_innen und Wissenschaftler_innen. Eine kritische Archivpraxis war Voraussetzung für die Entwicklung von RomArchive.
Walter Kempowskis viel zitierter Ausspruch „Wer die Vergangenheit nicht studiert, kann die Zukunft nicht mehr denken“ wird in Anbetracht der Kontinuitätslinien der Diskriminierung von Sinti und Roma sowie der Löschung ihrer kulturellen Praxen aus jeglichem Kultur-Kanon virulent. RomArchive folgt dem von Kempowski in seinen „Ortslinien“ verfolgten Prinzip des nichtlinearen Erzählens. RomArchive ist keine statische Datenbank, sondern ein lebendiges Archiv, das seine Objekte ins Erzählen bringt.
www.romarchive.eu

 

Johannes Schmidt
Niklas Luhmanns Zettelkasten: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Niklas Luhmann (1927-1998), der von 1968 bis 1993 an der Universität Bielefeld forschte und lehrte, ist neben Max Weber der berühmteste und wirkmächtigste deutsche Soziologe des 20. Jahrhunderts. Luhmanns funktionalistisch orientierte Systemtheorie stellt den Versuch dar, auf der Basis der philosophischen Tradition einerseits und der Rezeption der unterschiedlichsten Konzepte der modernen Wissenschaften andererseits die Grenzen der Soziologie so zu erweitern, dass eine angemessene Beschreibung der modernen Gesellschaft möglich wird. Der umfangreiche wissenschaftliche Nachlass Luhmanns lässt den Autor und sein Theoriegebäude diesseits seiner publizierten Werke sichtbar werden. Dieser Erkenntniswert gilt insbesondere für das Zentrum seiner Theoriearbeit, den ca. 90.000 Notizzettel umfassenden Zettelkasten. Diese zwischen 1952 und 1997 entstandene Sammlung, die Luhmann als Denkwerkzeug verstand und die zugleich eine ungeheuer erfolgreiche Publikationsmaschine mit über 600 Veröffentlichungen (darunter fast 50 Monographien) war, dokumentiert die Theorieentwicklung Luhmanns auf eine einzigartige Weise, so dass die Sammlung auch eine Geschichte der Theorie erzählt. Allerdings sind die Zettel undatiert, d.h. auf den ersten Blick geschichtslos. Dem korrespondiert der Sachverhalt, dass es das Ziel der Sammlung gerade war, zu ganz verschiedenen Zeiten entwickelte, also historische theoretische Argumente und Konzepte für zukünftige und noch weitgehend unbekannte Nutzungen bereitzuhalten, also das zunächst nicht Zusammenhängende unter einer bestimmten Fragestellung zusammenzubringen – und dann für die Produktion notwendig seriell angelegter Texte zu nutzen. Die Funktion als Textmaschine konnte die Sammlung aber nur entwickeln, weil die Notizen selbst gerade nicht seriell angelegt sind, sondern eher einer heterarchischen Relationierung unterliegen. Der Vortrag stellt die Struktur- und Ordnungsprinzipien der Sammlung vor und demonstriert die Strategien, wie mit den Herausforderungen einer netzwerkartigen Sammlung in einer digitalen Edition umgegangen wird.

https://niklas-luhmann-archiv.de/

 

Prof. Dr. Angela Schwarz
Zugänge zu Geschichte: Videospiele und Inszenierung vergangenen Lebens

Prof. Dr. Angela Schwarz, Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen (seit 2006). Zu den Forschungsschwerpunkten gehört seit vielen Jahren Geschichte in verschiedenen Medien und Formaten – darunter illustrierte Zeitschriften, Sachbücher, Reklamebilder und eben auch Videospiele – und die Popularisierung von Wissen und Wissenschaft. Weitere Informationen finden Sie auf meiner Webseite bzw. Publikationsseite.